„Genossenschaften als globales Erfolgsmodell“ Jahrestag der Aufnahme der Genossenschaftsidee ins Weltkulturerbe München, am 17. November 2017, in München

Vortrag von Ministerialdirigent Dr. Bernhard Felmberg zum Jahrestag der Aufnahme der Genossenschaftsidee ins Weltkulturerbe, am 17. November 2017, in München
„Genossenschaften als globales Erfolgsmodell“

Sehr geehrte Frau Gollan,
(Vorstand, wagnis eG)

Sehr geehrter Herr Vogt,
(Vorstand Verein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens, Leipzig)

Sehr geehrter Herr Dr. Flieger,
(Vorstand innova eG)

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Und ich freue mich, heute Abend nicht nur einen Redebeitrag leisten zu dürfen, sondern selbst gerade auch noch etwas mehr zum Hintergrund der Aufnahme der Genossenschaftsidee in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO und die Geschichte der Genossenschaften gelernt zu haben.

Warum bin ich heute als Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hier?

Weil die Genossenschaftsidee und die Entwicklungspolitik eine grundlegende Gemeinsamkeit haben: Nämlich die feste Überzeugung, dass Menschen sich aus eigener Kraft aus Armut und prekären Verhältnissen befreien können, wenn ihre Selbsthilfekräfte sich auf gemeinschaftliche und demokratische Weise entwickeln können. Auch der Nachhaltigkeitsgedanke ist sowohl für Genossenschaften als auch für Entwicklungspolitiker eine Selbstverständlichkeit.

„Die Genossenschaftsidee ist unbestritten ein Erfolgsmodell. Sie steht für eine starke Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Zielen innerhalb einer demokratischen Ordnung.“

Daher freut es auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das ich heute hier vertrete, dass die Genossenschaftsidee im Jahr 2016 – beinahe hätte ich gesagt: „endlich“ – in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde. An diese Anerkennung einer bahnbrechenden Idee, die nicht bei der Theorie verblieb, sondern im wahrsten Sinne die Welt verbessert hat, erinnern wir uns gemeinsam mit Ihnen heute zur Feier des „Einjährigen“ nochmals gerne.

Die Genossenschaftsidee ist unbestritten ein Erfolgsmodell. Sie steht für eine starke Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Zielen innerhalb einer demokratischen Ordnung. Für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung von Gesellschaften sind Genossenschaften treibende Motoren.

Genossenschaften beeinflussen die Wirtschaftsstruktur eines Landes positiv und tragen ganz wesentlich zu ihrer Stabilität bei. Dies haben wir unter anderem im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008/2009 eindrücklich erlebt. Was mich persönlich am stärksten beeindruckt ist aber, dass die Genossenschaftsidee nicht bei der wirtschaftlichen Betrachtungsweise verblieb, sondern sie mit der sozialen Dimension verband. Diese Verknüpfung von ökonomischen mit sozialen Belangen ist aus meiner Sicht der eigentliche Kern ihres Erfolges.

Für die Entwicklungszusammenarbeit ist die Genossenschaftsidee gerade deshalb so wichtig: Auch wir sind davon überzeugt, dass soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge nicht voneinander getrennt werden können, wenn es darum geht, die Lebensumstände von Menschen nachhaltig zu verbessern. Genossenschaften sind deshalb so stark, weil sie auf lokaler Wirtschaftskraft und Initiative aufbauen und daher sehr nah an der Zielgruppe arbeiten. Gleichzeitig werden regionale und nationale Vernetzungen genutzt, um Strukturen aufzubauen und zu stärken.

In Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern – auch in Japan, das sich am deutschen Modell orientiert hat – haben wir den Erfolg dieses Modells in den letzten Jahrzehnten erlebt. In den meisten Entwicklungsländern bleibt dieser jedoch bisher leider aus.

Woran liegt das? Warum haben sich Genossenschaften in Europa anders als in Entwicklungsländern entwickelt – oder vielmehr entwickeln können? Weshalb haben Genossenschaften in Entwicklungsländern bisher nicht die gleiche ökonomische Bedeutung gewonnen wie beispielsweise im Deutschland des 19. Jahrhunderts?

Eine ganz entscheidende Rolle spielt die Segmentierung des Finanzsystems in Entwicklungsländern in einen formellen und einen informellen Teil. Dies wiederum ist auf die politischen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Denn die üben zum Teil erheblichen direkten Einfluss auf das Finanzsystem aus und schränken dessen Leistungsfähigkeit stark ein. Und obwohl es auch bei armen Menschen in Entwicklungsländern Sparpotenzial gibt – was bis in die späten 90er Jahre hinein überhaupt nur unzureichend erkannt wurde –, sind große Teile der Bevölkerung in Entwicklungsländern nach wie vor nicht ausreichend in das Finanzsystem integriert.

Es gibt aber auch gesellschaftliche Gründe: Wie im vorindustriellen Europa, vor dem Durchbruch der genossenschaftlichen Idee, wie wir sie heute kennen, so gab es auch in Entwicklungsländern traditionelle Kooperationsformen, um gemeinsam etwas zu erreichen, was der Einzelne nicht erreichen konnte. Diese Kooperationsformen in Entwicklungsländern waren eingebunden in das traditionelle Gemeinschaftsleben. Auch den Religionen kam hierbei häufig eine Rolle zu. Gegenseitige Hilfe und Kooperation sind grundlegende Elemente menschlicher Gemeinschaft. Was jedoch offenbar eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Kooperationsmodellen spielt, ist die Definition von Eigentum. In traditionellen Gesellschaften in Entwicklungsländern gehör(t)en die Produktionsmittel in der Regel der Gemeinschaft, Formen von Privateigentum waren dagegen eher beschränkt. Dies spielt eine wichtige Rolle für die Handlungsmotivation der Individuen in einer Gemeinschaft.

Darüber hinaus entstanden in Deutschland Genossenschaften nicht zuletzt aufgrund erheblicher politischer und ökonomischer Verschiebungen. In Entwicklungsländern waren die traditionellen Kooperationsformen dagegen Ausdruck einer traditionellen Gesellschaftsordnung, in der soziale Bindungen in der Regel gesellschaftliche Mobilität und die Veränderung sozialer und wirtschaftlicher Strukturen verhinderten. Die Teilhabe der Einzelnen an den Kooperationen war nicht Ergebnis individueller, ökonomischer Nutzenabwägung, sondern sie entsprach den bestehenden traditionellen Werten und Normen.

Hieran wird deutlich, dass Genossenschaften ein bestimmtes Umfeld brauchen, um überhaupt dynamisch aktiv werden zu können.

In Deutschland – das wissen Sie alle – unterliegen Genossenschaften sowohl einer organisationsspezifischen Kontrolle durch das Genossenschaftsgesetz als auch einer tätigkeitsspezifischen Kontrolle durch das zuständige Bundesamt. Genossenschaften sind dadurch entsprechenden Pflichtprüfungen unterworfen und zur Einhaltung bankenrechtlicher Bestimmungen verpflichtet.

In Entwicklungsländern treffen wir auf andere Rahmenbedingungen: In manchen Ländern werden Genossenschaften von den für Banken geltenden Vorschriften gar nicht erfasst, häufig mangelt es auch an organisationsspezifischen Bestimmungen. Selten gibt es Genossenschaftsgesetze, und häufig wurden (und werden) diese politisch missbraucht. Häufig wurde die genossenschaftliche Konzeption als Selbsthilfeinstitution in Entwicklungsländern vernachlässigt, da der Staat als Initiator auftrat. Zudem gibt es bisher in den wenigsten Entwicklungsländern einheitliche gesetzliche Grundlagen für Genossenschaften. Da das BMZ dies als wichtige Voraussetzung für den Aufbau eines echten Genossenschaftswesens sieht, fördern wir im BMZ die Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen über langfristig angelegte Projekte des Dachverbandes Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband, kurz: DGRV.

Denn aus Sicht der Entwicklungspolitik  (und jetzt wissen Sie endgültig, warum ich heute als deren Vertreter gerne zu Ihnen gekommen bin!) bietet die Genossenschaftsidee einen so dynamischen und anpassungsfähigen Ansatz, dass sie auch unserer „Zielgruppe“, den armen und benachteiligten Menschen in Entwicklungsländern, neue Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe und Mitgestaltung eröffnet – und damit maßgeblich zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beiträgt.

Das heißt konkret:

Schon vor mehr als 30 Jahren hat das BMZ den DGRV (als Fachorganisation für Genossenschaftssysteme) für seine entwicklungspolitische Arbeit im Rahmen der sogenannten „Sozialstrukturförderung“ gewonnen. Ziel war und ist es bis heute, aus dem genossenschaftlichen Ansatz heraus langfristig nachhaltige soziale und wirtschaftliche Strukturen aufzubauen und ein tragfähiges gesellschaftliches Gefüge mitzugestalten.

Besonderheit des DGRV und unserer Sozialstrukturförderung ist, dass die Projekte auf mehreren Ebenen ansetzen und so nachhaltige Wirkung erzielen: Auf der Zielgruppenebene werden Fachwissen vermittelt und Kapazitäten aufgebaut;  auf der staatlichen Ebene wird daran gearbeitet, dass die Rahmenbedingungen für echtes genossenschaftliches Handeln geschaffen werden.

Dafür benötigt man zweifellos nicht nur einen ziemlich langen Atem, sondern vor allem eine ganz besondere Fachlichkeit, viel Erfahrung, starke Wurzeln und Strukturen (aus der langjährigen Arbeit in Deutschland) und idealerweise Kenntnisse über Zugänge zu politischen Ebenen vor Ort. Das unterscheidet übrigens Vorhaben der Sozialstrukturförderung von den vielen kleinen Projekten anderer Nichtregierungsorganisationen, die vom BMZ in ihrem Engagement ebenfalls unterstützt werden.

Denn die Dimension, Tragweite und Wirkung der Vorhaben, die wir i.R. der Sozialstrukturförderung gemeinsam mit dem DGRV in unseren Partnerländern konzipiert haben, sprechen für sich.


Nur zwei Beispiele aus der Praxis: 

Besonders erfolgreich verlief die Genossenschaftssystementwicklung in Brasilien in den letzten 30 Jahren. In 13 Sektoren sind bei einem Partner des DGRV (= Dachverband OCB) inzwischen mehr als 6.600 Genossenschaften mit 13,2 Mio. Mitgliedern registriert. Nachdem auch die Beratung zum Genossenschaftsgesetz erfolgreich war, liegt ein Projektschwerpunkt nun in der Beratung der Zentralbank (BACEN) zum Thema Prüfung. Denn dieses Thema ist zentral, um auch langfristig solide Institutionen zu gewährleisten und die Mitglieder der Genossenschaften vor Verlusten zu schützen.


Anderes Beispiel:
Auch in Kambodscha ist es dem DGRV gelungen, maßgeblich zur positiven Dynamik in der Genossenschaftssystementwicklung beizutragen. Ausschlaggebend war  eine erfolgreiche Beratung zum 2013 verabschiedeten Gesetz für Agrargenossenschaften. Damit war – Sie kennen den Slogan aus der Werbung – der sprichwörtliche „Weg frei“ für den Aufbau genossenschaftlicher Verbundstrukturen, was wiederum zu einem rasant steigenden grundsätzlichen Interesse an Genossenschaften geführt hat. Und die schon herangewachsenen starken Genossenschaften im Land bilden auf Basis der neuen rechtlichen Grundlage jetzt erste Netzwerke, die dann wiederum mittelfristig in Verbände bzw. Zentralen münden könnten.

Das sind nur zwei von vielen Erfolgsgeschichten. Und die sind besonders beeindruckend wenn man bedenkt, dass wir mit einem einzelnen Projekt in Peru im Jahr 1983 unsere Zusammenarbeit begonnen haben.

Und heute, 34 Jahre später, fördern wir 6 große Regionalvorhaben des DGRV in insgesamt 34 Ländern mit jährlich fast 7 Mio. Euro.

Aktuell überlegt der DGRV (auf Bitten von Bundesminister Dr. Müller), sein Engagement in (Ost-)Afrika auszuweiten.

Denn – last but not least -:

Genossenschaften spielen auch im Rahmen des Marshallplans mit Afrika eine Rolle.

Diesen Plan hat das BMZ ins Leben gerufen – nicht als bloße einseitige Willenserklärung, sondern als ein lebendiges und dynamisches Papier, das viele Anregungen bieten will. Wichtig ist uns, dass es sich um einen Marshallplan mit Afrika handelt, nicht für Afrika. Wir wollen niemanden bevormunden, sondern gemeinsam im Dialog Lösungen finden. Wir wollen zudem nicht nur monetär, sondern insbesondere politisch neue Formen der Partnerschaft finden, um strukturelle Veränderungen zu bewirken. Unser Nachbarkontinent Afrika ist uns besonders wichtig, denn Afrika ist Chancen- und Wachstumskontinent zugleich.

Der Marshallplan basiert auf vier Kerngedanken:

  • Private Investitionen fördern
  • Gute Regierungsführung stärken
  • Handelsbeziehungen fairer gestalten und
  • Frieden und Stabilität sichern.

Mit der Umsetzung des Plans wollen wir vor allem Perspektiven bieten: Perspektiven durch berufliche Ausbildung, die wir in sieben afrikanischen Ländern zu einem neuen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit machen.

Wir setzen hierbei auf reformbereite Regierungen und auf Wirtschaftsentwicklung. Gute Regierungsführung ist eine grundlegende Voraussetzung: Wo Regierungen sichtbar Korruption bekämpfen und Verwaltung und Rechtsstaatlichkeit stärken, da unterstützen wir sie.

Durch Investitionen in Infrastruktur und Förderung der lokalen Wertschöpfung stärken wir unsere Partnerländer zusätzlich. Afrika darf nicht als bloßer Rohstofflieferant betrachtet und behandelt werden.

Zur Erreichung dieser großen Ziele spielen auch Genossenschaften eine wichtige Rolle. Denn die Genossenschaftsidee zählt völlig zu Recht zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit: Sie kann große Veränderungen bewirken – und hat dies schon in vielen Ländern und zum Wohl der dort lebenden Menschen getan.