„Soziales Europa – die Bedeutung des christlichen Wertekontextes“

„Soziales Europa – die Bedeutung des christlichen Wertekontextes“
Ringvorlesung Wilhelm Löhe Hochschule, am 8.Juni 2016

Dr. Bernhard Felmberg, Ministerialdirigent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

In diesen Tagen haben viele Menschen den Eindruck, die Welt sei aus den Fugen geraten:
Der Nahe Osten scheint zu zerfallen, Terror bedroht nicht mehr nur Afghanistan, Irak, Syrien und weite Teile Afrikas, sondern auch Europa. Der Konflikt mit Russland um die Ukraine scheint da fast schon eine Kleinigkeit zu sein. Die Flüchtlingskrise bringt Europa an die Belastungsgrenzen. Nicht so sehr an die wirtschaftlichen Belastungsgrenzen, sondern an die Grenzen der Solidarität.

Wenn man in der Entwicklungspolitik arbeitet und sozusagen für das Gute in der Welt zuständig ist, dann kommen zu diesen Herausforderungen natürlich noch weltweite Armut, das Bevölkerungswachstum, der Hunger und die Vertreibung dazu. Und wie wenn das alles nicht schon genug wäre, spüren wir überall auf der Welt die Folgen des Klimawandels.

„Und was liegt in Zeiten der Verunsicherung näher, als die einfachen Antworten der Populisten?“

Ja, die Welt ist aus den Fugen geraten. Das spüren die Menschen. Auch wenn Sie die einzelnen Zusammenhänge nicht benennen können, bleibt doch ein Gefühl der Verunsicherung, der Überforderung, der Orientierungslosigkeit. Und was liegt in Zeiten der Verunsicherung näher, als die einfachen Antworten der Populisten? In ganz Europa haben diejenigen Aufwind, die uns alle zurückwünschen in eine Zeit, die übersichtlicher war. Übersichtlicher, weil es noch Grenzzäune gab. Übersichtlicher, weil man nicht so sehr mit kultureller und religiöser Vielfalt konfrontiert wurde.

  1. I) Kernthese/ Überblick

Ich möchte heute mit Ihnen die Frage diskutieren, wie wir im Europa des 21.Jahrhunderts dieser Verunsicherung, dieser Orientierungslosigkeit und Komplexität begegnen können.

Keine wirklich leichte Aufgabe und Frage in einem Europa, das heute besteht aus: 27 Mitgliedsstaaten, über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, 25 Mitgliedsstaaten, die untereinander auf Grenzkontrollen verzichten, 16 Mitgliedsstaaten, die über eine gemeinsame Währung verfügen, ein Europa der Wirtschaft und Poli­tik, Diplomatie und Bürokratie, Verhandlungen und Verord­nungen, Währungsunion (oder eben nicht), Schengen und Verträgen.

Tatsächlich aber ist Europa weitaus mehr – so jedenfalls der Anspruch: Europa heißt auch Frie­den, Europa heißt Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechts­staatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. Das sind die Werte, denen sich  Europa verpflichtet fühlt. Und deshalb lautet meine Kernthese auch:  Nur mit einem funktionierenden Wertekompass finden wir den Weg in die Zukunft!

Der Theologe Romano Guardini hat schon vor Jahrzehnten in seinem Buch „Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens“ (erschienen  1967 in Würzburg) eine „Tugend-Liste“ aufgestellt, die aus 17 Begriffen besteht: Wahrhaftigkeit, Annahme, Geduld, Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Treue, Absichtslosigkeit, Askese, Mut, Güte, Verstehen, Höflichkeit, Dank­barkeit, Selbstlosigkeit, Sammlung, Schweigen, die Gerechtigkeit vor Gott.

Tatsächlich  müssen auch wir uns wieder stärker mit dem auseinandersetzen, was Europa im Innersten zusammenhält. Europa ist nicht nur eine Freihandelszone, sondern eine Wertegemeinschaft. Und diese Werte basieren unter anderem auf unserer christlichen Tradition.

  1. II) Wertebasierte Entwicklungspolitik

In der Entwicklungspolitik nehmen wir das ernst. Die Bundesregierung steht für eine wertebasierte Entwicklungspolitik. Unsere Werte sind das Fundament für die erfolgreiche politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres eigenen Landes. Sie finden ihren Ausdruck in ökonomischen und sozialen Modellen, die international nachgefragt werden: Von kommunaler Selbstverwaltung über betriebliche Mitbestimmung und dualer Ausbildung bis hin zu sozialen Sicherungssystemen, die beides ermöglichen: Freiheit und Chancengerechtigkeit. Die soziale und ökologische Marktwirtschaft verbindet Werte mit sozialem, wie wirtschaftlichem Erfolg und ist ein spezifischer Beitrag, den unser Land in die internationale Zusammenarbeit einbringen kann.

Der aktive Einsatz für unsere Werte ist nach wie vor notwendig. Die Annahme vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), vom unaufhaltsamen Siegeszug von Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit hat sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil – ich habe es gerade schon angedeutet: Boko Haram in Nigeria, der IS im Irak und Syrien, die Taliban und Al Quaida in Afghanistan bekämpfen explizit diese Werte und rekrutieren Kämpfer aus der ganzen Welt. Autokratische Regime gewinnen in dem Maße an Attraktivität, in dem der Glaube an den Erfolg westlicher Marktwirtschaften durch die Finanzkrise erodiert wurde. Und auch Staaten wie Russland begründen ihr Handeln zum Teil mit einer expliziten Ablehnung westlicher Werte.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Artikel 1 des Grundgesetzes ist das Fundament einer wertebasierten Entwicklungspolitik. Die Menschenwürde gilt für alle Menschen – weltweit. Diese Grundüberzeugung speist sich direkt aus unser christlich-jüdischen Tradition und einem christlichen Menschenbild. Sie findet ihren normativen Ausdruck unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die deutsche Entwicklungspolitik setzt sich weltweit für die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte ein. Deutschland steht für Freiheit, Frieden, Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Unsere Entwicklungspolitik befördert Demokratie, gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit sowie eine sozial und ökologisch ausgerichtete Marktwirtschaft. Dazu gehört auch die Bewahrung der Schöpfung.

Eine wertebasierte Entwicklungspolitik stellt den Menschen mit seinen Fähigkeiten in den Mittelpunkt und schafft Freiräume für private Eigeninitiative. Dabei sind Subsidiarität und Solidarität von zentraler Bedeutung.

III) Europas Werte, Europas Verantwortung

Aus diesen Werten müssen Taten folgen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Europa lebt seine Werte in der Verantwortung. In der Verantwortung für den Frieden. In der Verantwortung für globale Gerechtigkeit. Und in der Verantwortung für unseren Planeten.
Immer dann, wenn Europa sich dieser Verantwortung entzieht, wird es unglaubwürdig und schwach. Es liegt im Interesse Europas, sich nicht zurückzuziehen und darauf zu warten, bis andere Verantwortung übernehmen.

Wir im BMZ mit Bundesminister Dr. Müller an der Spitze nehmen diese Verantwortung wahr:

In der aktuellen Flüchtlingskrise zählt Deutschland zu den größten Gebern. Alleine in diesem Jahr werden wir 3 Milliarden EUR an Hilfsgelder zusagen. Damit wollen wir die Situation der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten Syriens verbessern. Bisher konnten mit diesen Mitteln in Jordanien 800 000 Menschen einen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 200 000 Menschen Zugang zu Strom erhalten. Im Nordirak haben wir die Gesundheitsversorgung von 500 000 Menschen verbessert. Und natürlich investieren wir massiv in Bildung, damit wir nicht eine ganze verlorene Generation haben.

Wir übernehmen aber auch Verantwortung, indem wir uns für soziale und ökologische Standards bei der Produktion von Kleidern einsetzen. Viele Bürgerinnen und Bürger – in unserem eigenen Land und in vielen anderen europäischen Staaten – glauben: Wenn alle so leben könnten und würden wie wir, dann wäre die Welt in Ordnung. Das ist ein Riesenirrtum. Denn die wenigsten machen sich klar, in welchem Umfang wir Umweltkosten einfach nur ausgelagert haben. Die bezahlen dann jene Länder, aus denen unsere Rohstoffe und Produkte kommen.

Um die bekannte Terminologie und Rollenverteilung mal komplett auf den Kopf zu stellen: Im Grunde sind wir alle die Nehmer- und nicht die Geberländer. Das rüttelt zugegebenermaßen ordentlich an unserem Selbstverständnis, weil es bedeutet, dass auch wir in mancher Hinsicht „Entwicklungsländer“ sind. Aber wir haben überhaupt keinen Grund, mit dem Finger anklagend oder gar geringschätzig auf die Länder zu zeigen, die nun auch ihren Anteil an Rohstoffen, Lebensräumen und Wohlstand beanspruchen. Wir müssen vielmehr unser eigenes Wohlstandsmodell überdenken – und zukunftsfähig machen. Unsere Bereitschaft, als Vorbild voranzugehen, uns selbst auch weiter zu entwickeln, unser Wissen partnerschaftlich mit anderen zu teilen, ökologische und soziale Standards weltweit zu verbreiten – all das gehört zu globaler Verantwortung. Und es kann zugleich entscheidende Impulse für die Entwicklungschancen in anderen Teilen der Welt geben.

Beispiel Textilbranche: Über lange Lieferketten sind die Lebensbedingungen der Menschen heute weltweit eng miteinander verknüpft: Rohstoffe für unsere Handys kommen aus Afrika, unsere Kleidung wird in Asien hergestellt, die Sojabohnen für Viehfutter werden in Südamerika angebaut – die Liste ließe sich munter fortsetzen. Alltägliche Dinge funktionieren nicht mehr ohne weltweite Zusammenhänge. Das schafft in erheblichem Maße Arbeitsplätze in Entwicklungs- und Schwellenländern – bedeutet aber auch, dass es uns immer mehr angeht (und angehen muss), unter welchen Bedingungen diese Dinge des alltäglichen Lebens für uns weltweit produziert werden.

Ein klarer Wertekompass zeigt sich also auch in der Verantwortungsübernahme für globale nachhaltige Entwicklung!

  1. Rückbesinnung auf Werte

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf diesen Wertekompass zurückkommen. In der Entwicklungszusammenarbeit haben wir nämlich die Erfahrung gemacht: Nur wer sich zu seinen eigenen Werten bekennt, ist ein glaubwürdiger Partner im Dialog über eine globale Wertebasis. Leider fehlt es daran in Europa. Ich möchte hier einmal Papst Benedikt zitieren – und das, obwohl ich Protestant bin:

Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, daß die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei; daß nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen.

Selbst wenn man die Lage nicht ganz so dramatisch einschätzt wie seinerzeit Papst Benedikt: Das ist das Bild, das viele Menschen außerhalb Europas von unserem Kontinent haben. Auch Papst Franziskus hat ja in seiner Rede vor dem europäischen Parlament von einem „unfruchtbaren Weib“ gesprochen.

Wie können wir diesen Zustand überwinden? Ich bin der Meinung, dass wir gerade jetzt ein Projekt wieder aufnehmen sollten, dass leider beim ersten Mal gescheitert ist: Eine Verfassung für Europa! Eine Verfassung, die in ihrer Präambel ein klares Bekenntnis zu den Werten Europas und seiner christlichen Tradition enthält. Und in der wir genau wie in unserem Grundgesetz einen Gottesbezug verankern.

In der Verfassungsdebatte von 2003 stand die Frage nach einem Gottesbezug weit oben auf der politischen Agenda. Viele deutsche Konventsmitglieder haben sich sehr stark dafür gemacht, dass ein Gottesbezug oder doch wenigstens ein neutralerer, nicht aktiv bekennender, sondern eher feststellender Verweis auf das christliche Erbe Europas nicht fehlen sollte. Sie wissen auch, dass dieses Anliegen gescheitert ist. Die Mehrheit der Staaten (wie bei uns die Mehrheit der Bundesländer) hat eben selbst keinen solchen Bezug.

Umso dankbarer dürfen wir sein, dass der Vertrag von Lissabon nicht „religionsblind“ geblieben ist. Schon in der Präambel findet sich eben doch der Satz: „SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben […].“

Ich bin nach wie vor für einen Gottesbezug in einer europäischen Verfassung. Denn: Werte speisen sich aus Weltsichten. Weltsichten prägen unser Verhältnis zur Welt. Ohne diesen Hintergrund sind Werte beliebig und unverständlich. Sie müssen in etwas gegründet sein, das über ihre säkulare Hülle hinausgeht. Das kann, ich will das nicht ausschließen, auch eine Philosophie oder Weltanschauung sein. Das wird aber doch immer auch die Religion sein, deren Werte prägend für Europa und seine Staaten und Völker waren, egal wie der Einzelne sich heute zu diesen Wurzeln verhält. Aus diesen geistig-geistlichen Quellen müssen die Werte immer wieder neu mit Leben und Bedeutung gefüllt werden, wenn sie wirkmächtige Faktoren der Gestaltung unserer Gesellschaften bleiben wollen.

Bewahrung der Schöpfung ist eben mehr als das Staatsziel des Umwelt- und Tierschutzes! Gerechtigkeit ist mehr als der Rechts- und Sozialstaat! Frieden ist mehr als die Eindämmung von Gewalt!

Und schließlich: Menschen müssen sich und ihr Tun verantworten. Vor den anderen, aber eben auch vor einer höheren Instanz. Der, ich greife den etwas flapsigen Begriff der Juristen hier einmal gern auf, „Präambelgott“ des Grundgesetzes ist ja nicht die Allerheiligste

Dreifaltigkeit. Das Deutschland des Grundgesetzes ist nicht mehr das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Der Gott des Grundgesetzes ist eine Chiffre für das „ganz andere“, das Unhintergehbare, das Letztinstanzliche, das mit dieser Begriffswahl explizit transzendiert wird.

Mit der Transzendierung wird aber allem Immanenten, allem Weltlichen, gerade das abgesprochen: absolut zu sein. Mitten im Jahrhundert des Totalitarismus, noch in den Trümmern, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, in einem geteilten Land, dessen östliche Hälfte unter kommunistischer Besatzung stand, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes ein klares und vernehmliches NEIN gegen alle Verabsolutierung des Staates ausgesprochen. Das Grundgesetz begründet einen neuen Staat, der von ihm erst geschaffen ist, der durch das Grundgesetz bestimmt ist, und der allen seinen Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit lässt, gegen Unrecht und auch gegen zu große Ungerechtigkeit NEIN zu sagen, weil jeder noch eine andere Verantwortung hat.

Ein Gottesbezug, der nicht ausschließt, der keine homogene, monokulturelle Gesellschaft schaffen, der nicht Meinungs- und Glaubensfreiheit begrenzen will, sondern der Raum schaffen will für die freie Ausübung des Gewissens, der menschliche Macht und staatlichen Anspruch begrenzt, ein solcher Gottesbezug darf, ja sollte seinen Raum in unseren Verfassungen haben. Er ist die Grundlage wirklicher Freiheit.

Gleichzeitig erinnert er uns daran, dass wir Geschöpf und nicht Schöpfer sind. Wer sich seiner Geschöpflichkeit bewusst ist, der wird Respekt vor dem Leben zeigen und sich nicht über andere erheben. Dieser Respekt vor der Würde des anderen ist im Kern, was Europa ausmacht. Und das ist es auch, was Europa stark macht. Denn aus dem Respekt für die Würde folgt die Verpflichtung zur Solidarität.

  1. V) Der Beitrag der Religionen zur Wertebasis/ Religiöse Vielfalt

Die Rolle der Religion wurde auch in der Entwicklungspolitik lange nur stiefmütterlich behandelt. Das hat Bundesminister Dr. Müller geändert.

80 Prozent der Menschen auf dieser Welt sind religiös. Religion beeinflusst das Denken und Handeln der meisten Menschen. In vielen Ländern – gerade in Entwicklungsländern – genießen Religionsvertreter ein deutlich höheres Vertrauen als der Staat. Religionen erreichen die Menschen mit ihren Netzwerken auch dort noch, wo es längst keine staatlichen Strukturen mehr gibt. Seit Jahrhunderten leisten die Religionsgemeinschaften in Afrika den wichtigsten Beitrag zur sozialen Grundsicherung.

Wenn wir in Europa – aber auch weltweit – die gemeinsame Wertebasis stärken wollen, wird das nicht ohne die Religionen gehen. Wir brauchen diejenigen, die nicht nur Einfluss auf die Köpfe, sondern auch auf die Herzen der Menschen haben.

Im Februar haben wir in Berlin daher erstmalig eine  internationale Konferenz zu dem Thema auf die Beine gestellt, mit über 250 Teilnehmern – darunter Vertreter aller Weltreligionen – aus aller Welt. Bundesminister Müller hat der Öffentlichkeit eine neue Strategie zur Zusammenarbeit mit den Religionen vorgestellt, in der das BMZ sich vornimmt, die Zusammenarbeit mit religiösen Akteuren systematisch auszubauen.

Natürlich sind wir uns bewusst, dass Religion auch Teil des Problems sein kann. Wenn Frauen unter Berufung auf religiöse Vorschriften unterdrückt oder Minderheiten verfolgt werden. Aber selbst in solchen Fällen gilt: Nicht der Dialog ist die Gefahr, sondern die Verweigerung des Dialogs. Überall dort wo Religion Teil des Problems ist, muss sie auch Teil der Lösung sein. Wer über Werte sprechen möchte und lässt dabei die Religionen außen vor, der ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb sollten wir alle Religionsgemeinschaften in Deutschland und Europa auffordern, sich aktiv in die Wertedebatte einzubringen.

  1. VI) Religionsfreiheit schützen

In der Entwicklungspolitik beobachten wir mit Sorge vielerorts erhebliche Einschränkungen,  Verletzungen von Religionsfreiheit, staatliche Restriktionen und Diskriminierungen, die sich gegen bestimmte Religionen oder ihre Ausübung richten. Dazu gehören sowohl die Bevorzugung von Angehörigen einer bestimmten Religion beim Zugang zu staatlichen Ämtern – oder aber, umgekehrt, der  Ausschluss von Angehörigen bestimmter religiöser Minderheiten. Hinzu kommen Anfeindungen aus dem sozialen Umfeld: Gewaltsame Übergriffe von Nachbarn auf den Andachtsort einer religiösen Gemeinschaft, der aufgewiegelte Mob, aber auch faktische Benachteiligungen des täglichen Lebens – beim Einkauf, in der Schule, im Krankenhaus. Der dringend notwendige staatliche Schutz bleibt zu häufig aus.

Wer ist davon betroffen? Kurz gesagt: Angehörige aller Religionen. Zahlenmäßig am stärksten betroffen sind Christen, und als zweitgrößte Gruppe weltweit auch Muslime. Beide große Weltreligionen führen nicht zuletzt aufgrund ihrer Gesamtzahl – Christen stellen etwa 31,5% und Muslime 23,2%  der Weltbevölkerung – diese Statistik an.

In 61 Ländern ist Religionsfreiheit nur begrenzt oder gar nicht gesetzlich gewährleistet; in 147 Ländern wird das öffentliche Bekenntnis von Seiten des Staates eingeschränkt; vom Mob ausgehende Gewalt mit Bezug zu Religion gibt es in 49 Ländern und  in 73 Ländern sind terroristische Gruppen mit religiösem Bezug aktiv.

Die Statistiken und die aktuellen Lageberichte (z.B. aus Nigeria, aus dem Irak) zeichnen ein  ziemlich düsteres Bild. Die Herausforderung,  Religionsfreiheit als Wert zu schützen und zu verwirklichen, ist offensichtlich groß.

Und auch im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung verpflichtet, für die Religionsfreiheit als elementares Menschenrecht einzutreten. Das heißt zugleich: Die Förderung der Religionsfreiheit steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Förderung anderer Menschenrechte. Und unsere wertebasierte Entwicklungspolitik will über ihren Menschenrechtsansatz ja gerade darauf hinwirken, jegliche Form von Diskriminierung abzubauen und von vornherein zu verhindern.

Aus alldem folgt: (Entwicklungs-) Politik ist zwar weltanschaulich neutral – aber nicht werte-neutral. Deshalb akzeptieren wir auch keine Diskriminierung. Und  wir bevorzugen auch niemanden, übrigens auch keine Religionsgemeinschaft. Denn eine Einflussnahme mit Fokus auf die religiöse Zugehörigkeit einer Zielgruppe würde bestehende Konflikte nicht lösen, sondern – im Gegenteil – eher weiter schüren.

VII) Zusammenarbeit mit den Kirchen

Das BMZ arbeitet mit den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland  daher nicht seit über 50 Jahren in der Form zusammen, dass mit staatlichen Mitteln Vorhaben zur Missionierung oder zur Unterstützung einer bestimmten Religionsgruppe gefördert werden, im Gegenteil: Damit würden wir bestehende Diskriminierungen nur  noch verstärken – oder bloß „verlagern“.

Vielmehr sind Vorhaben der Kirchen, die mit staatlichen Mittel gefördert werden, so konzipiert, dass sie das Zusammenleben von Christen mit Muslimen bzw. allen Religionsgruppen untereinander fördern.

Eine grundsätzliche Privilegierung von Glaubensschwestern oder Glaubensbrüdern  widerspräche auch dem Auftrag und Selbstverständnis der kirchlichen Hilfswerke selbst. „Misereor“ und „Brot für die Welt – EED“ sind schon qua Definition keine Werke zur „Hilfe speziell für Christen“. Vorhaben der Kirchen kommen daher grundsätzlich allen Notleidenden zu – ungeachtet von Geschlecht, Ethnie oder Religion (akt. Zahlen zur BMZ-Förderung von Kirchenvorhaben 2016: 255 Mio. € + ca. 30 Mio. € aus verschiedenen SI,  allein 21 Mio. € aus SEWOH).

Die Partner und Projektträger der Kirchen vor Ort sind aber oft kirchlich oder kirchennah. Auf diese Weise sind christliche Akteure in hohem Maße in die Projekte involviert. Das trägt nicht nur zum Frieden und der Verständigung zwischen den Religionen bei, sondern verbessert damit langfristig auch die Situation der Christen selbst.

VIII) Umgang mit religiöser Vielfalt zentral für die Zukunft Europas

Der Umgang mit religiöser Vielfalt wird die Zukunft Europas ganz entscheidend prägen. Aber auch das macht Europa aus: Das Ringen um die richtige Balance zwischen Religion und Politik, zwischen Kirche und Staat.

Mit der Französischen Revolution setzte die Säkularisierung ein. Die Anfänge richteten sich übrigens weniger gegen die Religion an und für sich als gegen die politische Macht der Kirche. Im weiteren Verlauf bekam aber in der Tat eine fast schon religionsfeindliche Tendenz die Oberhand. Bis heute verbannt die französische Verfassungstradition die Religion aus dem öffentlichen Raum.

In Großbritannien dagegen ist das Staatsoberhaupt zugleich Oberhaupt der anglikanischen Kirche. Auch das hat sehr weltliche Ursachen, wäre aber für Franzosen ganz und gar undenkbar.

Wir leben in einem Land, in dem vor fast einem halben Jahrtausend, im Jahr 1517 ein Mönch namens Martin Luther bekanntlich Papst und den Kaiser von Gottes Gnaden herausgefordert hat. Wir leben in einem Land, das im Namen der Religion von einem 30jährigen Krieg verwüstet wurde – und da kämpften Christen gegen Christen! In einem Land, das schließlich 1648 im Westfälischen Frieden ein Modell erfand, in dem die beiden Konfessionen zwar gleichgestellt wurden, aber gleichzeitig die jeweiligen Machthaber das Recht bekamen, auch über die Religion ihrer Untertanen zu entscheiden. Auch das war, wie Aufklärung und französische Revolution erwiesen, keine nachhaltige Lösung.

Heute haben wir in Deutschland eine intelligente Kooperation von Kirche und Staat: Wir trennen nicht kategorisch, aber wir unterscheiden. Bei uns besteht keine Staatskirche. Jede Religionsgesellschaft ordnet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Und Staat und Kirchen arbeiten zusammen in Bereichen, in denen sie gemeinsame Ziele verfolgen, beispielsweise bei sozialen Diensten.

Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen mit diesem System gemacht. Doch egal wie genau das Verhältnis zwischen Staat und Religion ausgestaltet ist, eines zeigen unsere Erfahrungen in Europa ganz deutlich: Nur da, wo Einheit in Vielfalt gelebt wird, kann Frieden und Wohlstand wachsen!

Wir haben in Europa also gelernt, dass dies ein Europa für alle sein muss. Ein Europa in dem jeder seine Religion frei ausüben darf und wo die weltanschauliche Neutralität des Staates gilt. Deshalb dürfen christliche Werte auch nie zur Ausgrenzung benutzt werden. Wer von abendländischen Werten spricht, um anderen klar zu machen, dass sie nicht nach Europa gehören, der hat nichts aus der Geschichte dieses Kontinents gelernt. Wenn ich hier für einen klaren Wertekompass plädiert habe, der sich seiner christlichen Grundlage bewusst ist, dann ist das als Angebot und nicht als Absage zu verstehen. Ein Angebot zum Dialog und zum gegenseitigen Verständnis.