„Soziales Europa – die Bedeutung des christlichen Wertekontextes“
Ringvorlesung Wilhelm Löhe Hochschule, am 8.Juni 2016
Dr. Bernhard Felmberg, Ministerialdirigent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
In diesen Tagen haben viele Menschen den Eindruck, die Welt sei aus den Fugen geraten:
Der Nahe Osten scheint zu zerfallen, Terror bedroht nicht mehr nur Afghanistan, Irak, Syrien und weite Teile Afrikas, sondern auch Europa. Der Konflikt mit Russland um die Ukraine scheint da fast schon eine Kleinigkeit zu sein. Die Flüchtlingskrise bringt Europa an die Belastungsgrenzen. Nicht so sehr an die wirtschaftlichen Belastungsgrenzen, sondern an die Grenzen der Solidarität.
Wenn man in der Entwicklungspolitik arbeitet und sozusagen für das Gute in der Welt zuständig ist, dann kommen zu diesen Herausforderungen natürlich noch weltweite Armut, das Bevölkerungswachstum, der Hunger und die Vertreibung dazu. Und wie wenn das alles nicht schon genug wäre, spüren wir überall auf der Welt die Folgen des Klimawandels.
„Und was liegt in Zeiten der Verunsicherung näher, als die einfachen Antworten der Populisten?“
Ja, die Welt ist aus den Fugen geraten. Das spüren die Menschen. Auch wenn Sie die einzelnen Zusammenhänge nicht benennen können, bleibt doch ein Gefühl der Verunsicherung, der Überforderung, der Orientierungslosigkeit. Und was liegt in Zeiten der Verunsicherung näher, als die einfachen Antworten der Populisten? In ganz Europa haben diejenigen Aufwind, die uns alle zurückwünschen in eine Zeit, die übersichtlicher war. Übersichtlicher, weil es noch Grenzzäune gab. Übersichtlicher, weil man nicht so sehr mit kultureller und religiöser Vielfalt konfrontiert wurde.
- I) Kernthese/ Überblick
Ich möchte heute mit Ihnen die Frage diskutieren, wie wir im Europa des 21.Jahrhunderts dieser Verunsicherung, dieser Orientierungslosigkeit und Komplexität begegnen können.
Keine wirklich leichte Aufgabe und Frage in einem Europa, das heute besteht aus: 27 Mitgliedsstaaten, über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, 25 Mitgliedsstaaten, die untereinander auf Grenzkontrollen verzichten, 16 Mitgliedsstaaten, die über eine gemeinsame Währung verfügen, ein Europa der Wirtschaft und Politik, Diplomatie und Bürokratie, Verhandlungen und Verordnungen, Währungsunion (oder eben nicht), Schengen und Verträgen.
Tatsächlich aber ist Europa weitaus mehr – so jedenfalls der Anspruch: Europa heißt auch Frieden, Europa heißt Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. Das sind die Werte, denen sich Europa verpflichtet fühlt. Und deshalb lautet meine Kernthese auch: Nur mit einem funktionierenden Wertekompass finden wir den Weg in die Zukunft!
Der Theologe Romano Guardini hat schon vor Jahrzehnten in seinem Buch „Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens“ (erschienen 1967 in Würzburg) eine „Tugend-Liste“ aufgestellt, die aus 17 Begriffen besteht: Wahrhaftigkeit, Annahme, Geduld, Gerechtigkeit, Ehrfurcht, Treue, Absichtslosigkeit, Askese, Mut, Güte, Verstehen, Höflichkeit, Dankbarkeit, Selbstlosigkeit, Sammlung, Schweigen, die Gerechtigkeit vor Gott.
Tatsächlich müssen auch wir uns wieder stärker mit dem auseinandersetzen, was Europa im Innersten zusammenhält. Europa ist nicht nur eine Freihandelszone, sondern eine Wertegemeinschaft. Und diese Werte basieren unter anderem auf unserer christlichen Tradition.
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